Gaby Petry und Kerstin Kocura erläutern, warum das Dalton-Konzept im Lockdown so gut greift – und in Zukunft noch wichtiger wird
Den Lockdown hat das Placida-Viel-Berufskolleg im Griff. Daran lassen Schulleiterin Gaby Petry und ihre Stellvertreterin Kerstin Kocura keinen Zweifel: „Wir sind so gut aufgestellt, dass es bei uns zu keinem Verlust der Unterrichtsqualität kommen wird.“ Im Interview erläutern sie, warum sich die neuen pädagogischen Konzepte und die technische Ausstattung in der jetzigen Situation besonders bewähren – und warum sich die Schule den Herausforderungen in Studium und Arbeitswelt dadurch immer besser anpasst.
Sie führen seit 2019 das Dalton-Konzept an Ihrer Schule ein, das von den Schülerinnen und Schülern ohnehin fordert, selbstständiger zu lernen und digitale Möglichkeiten zu nutzen. Welche Vorteile entstehen dadurch in der jetzigen Situation?
Gaby Petry: Die Themen der Bildungsgerechtigkeit und der Digitalisierung werden von der Politik zu stark auf wenige Aspekte reduziert. Digitalisierung bedeutet ja nicht nur, Tafeln durch andere Endgeräte zu ersetzen. Ebenso darf Bildungsgerechtigkeit nicht heißen, sich nur um sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Wir haben uns deshalb vor der Einführung neuer, digitaler Lernplattformen zuerst mit einer neuen pädagogischen Konzeption auseinandergesetzt. Unter dem Motto „Lernen von den Besten“ hatten wir uns vor 2019 an verschiedenen Schulen umgesehen und uns dann für Dalton entschieden. Uns war von Anfang an klar, dass sich unsere Schule dadurch nachhaltig verändern wird.
Uns war von Anfang an klar, dass sich unsere Schule dadurch nachhaltig verändern wird.
Gaby Petry
Was bedeutet das Lernen nach Dalton?
Kerstin Kocura: Die Schülerinnen und Schüler sollen befähigt werden, eigenständig zu lernen. Dabei steht die zunehmende Personalisierung des Unterrichts im Mittelpunkt: die Differenzierung nach Lernniveau, Fertigkeiten und Kompetenzen. Und damit wir das leisten können, brauchen wir die digitalen Möglichkeiten, die sich heutzutage bieten. Außerdem Materialien, auf die die Schülerinnen und Schüler jederzeit zugreifen können. Mittlerweile arbeiten fast alle Klassen nach dem Dalton-Prinzip. Dabei haben die Schüler maximal acht Dalton-Stunden, die aus dem üblichen Fachunterricht herausgelöst werden. Wenn ich in einer Klasse zum Beispiel nach Wochenplan drei Stunden Mathematik-Unterricht habe, erfolgen zwei im Präsenzunterricht – oder jetzt eben im virtuellen Klassenraum – und eine Stunde nach dem Dalton-Plan. Da wählen die Schülerinnen und Schüler ihre Themen aus einem vorgegebenen Angebot selbst – und ich stehe in dieser Zeit als Ansprechpartnerin zur Verfügung.
Evaluieren Sie die Erfolge?
Kerstin Kocura: Eine Steuerungsgruppe, die sich aus Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern zusammensetzt, optimiert das Lernangebot immer wieder. Wir geben einen Dalton-Planer heraus, in dem man die wöchentlichen Lernerfolge dokumentiert. Er hilft dabei, sich selbst zu strukturieren. Und im Sommer reflektieren wir das gesamte Schuljahr. Dann werden die Curricula gegebenenfalls angepasst. Das war im vergangenen Jahr bereits der Fall.
Wie sind Sie technisch dafür ausgestattet?
Gaby Petry: Wir hatten uns 2019 gemeinsam mit dem Schulträger für die Einführung von Office 365 entschieden. In der Schullandschaft unseres Landes gibt es ein Sammelsurium von Apps und Lernplattformen. Aber diese Microsoft-Lösung bietet einfach alles aus einer Hand. An dieser Stelle sind wir dem Schulträger sehr dankbar. Er hat dann die Lizenzen und Schulungen für die Einführung dieser Lernportale an allen Schulen im Verbund der Schulen der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel organisiert und finanziert. Ohne diese Weitsicht wäre unser pädagogisch-digitales Konzept so gar nicht umsetzbar gewesen.
Im Frühjahr 2020 war die Technik im vollen Umfang einsetzbar. Inzwischen haben auch alle Lehrerinnen und Lehrer einheitliche Dienstnotebooks, mit denen für den Umgang mit Office 365 geschult wurden. Dort kann man Dateien hinterlegen, an denen man gemeinsam oder auch alleine arbeitet. Ebenso sind darüber Videokonferenzen im Klassenverbund möglich. Das schafft viele Möglichkeiten für die Gestaltung des Unterrichts. Für die Schülerinnen und Schüler stehen weitere 70 Notebooks zur Verfügung, die wir bei Bedarf herausgeben.
Aber der Unterricht per Videokonferenz funktioniert sicher anders als der im echten Klassenraum…
Kerstin Kocura: Ja, das ist so. Man muss die Stunden anders aufziehen. Die Technik funktioniert, hält aber auch etwas auf. Wenn ich eine Frage stelle, sehe ich im Klassenraum sofort, wer aufzeigt. Im Online-Unterricht dauert es, bis ich sehe, wer auf sein Händchen geklickt hat. Das verzögert die Abläufe. Aber das lässt sich ausgleichen, indem man den Unterricht methodisch anders plant.
Manche Schülerinnen und Schüler sind nach fünf Jahren Sekundarstufe I recht schulmüde. Wir aber sind anders. Das Dalton-Konzept hilft, sie wieder für das Lernen zu begeistern.
Kerstin Kocura
Bringen denn alle Schülerinnen und Schülern dasselbe Know-how und dieselben Voraussetzungen mit, um in das Lernmodell nach Dalton einzusteigen?
Gaby Petry: Wir sind ja eine nachfolgende Schule. In der Sekundarstufe I sammeln alle ihre Erfahrungen mit unterschiedlichen Techniken und Systemen. Aber bei uns dürfen nach dem Prinzip „Bring your own device“ alle ihre eigenen Endgeräte mit in den Unterricht bringen. Die meisten tun das auch. Und dadurch, dass sich unser Schulträger einheitlich für Office 365 entschieden hat, haben zumindest die Schülerinnen und Schüler, die von der benachbarten Walburgisrealschule und dem Walburgisgymnasium zu uns wechseln, schon Erfahrung im Umgang mit dieser Plattform.
Kerstin Kocura: Eine Herausforderung besteht eher darin, dass die Schülerinnen und Schüler, die zu uns kommen, in anderer Weise durch ihre bisherige Schulerfahrung geprägt sind. Sie sind oft noch weniger flexible Lernformen gewohnt. Manche sind nach fünf Jahren Sekundarstufe I recht schulmüde. Wir aber sind anders. Das Dalton-Konzept hilft, sie wieder für das Lernen zu begeistern. Dabei begleiten und fördern wir sie. Die Schülerinnen und Schüler geben uns dazu sehr positive Rückmeldungen.
Wie sieht denn diese Begleitung aus?
Gaby Petry: Zunächst haben wir ein Unterstützungsprogramm: Unser Medienteam bietet regelmäßig Sprechstunden an. Zum anderen haben wir mit dem Dalton-Konzept eingeführt, dass alle Schülerinnen und Schüler aus den Reihen unseres Kollegiums einen Mentor an die Seite gestellt bekommen, bei dem sie sonst keinen Unterricht haben. Lediglich die Schulleitung ist ausgenommen. Beide Seiten sollen sich unbefangen begegnen und austauschen können. Das ist ganz wichtig. Mit diesen Mentorinnen und Mentoren wiederum tauschen wir uns als Schulleitung aus. Sie helfen uns zu beurteilen, woran wir weiterarbeiten und was wir verändern müssen.
Nehmen diese Möglichkeiten alle Schülerinnen und Schüler in Anspruch? Und besteht nicht gerade jetzt – im Lockdown – die Gefahr, dass jemand abtaucht?
Kerstin Kocura: Wir sehen ja, wer am Unterricht teilnimmt und seine Aufgaben abarbeitet. Dafür gibt es Fristen. Wenn einzelne Schülerinnen und Schüler die zunehmend versäumen, nimmt unsere Schulsozialarbeit Kontakt zu ihnen auf. Notebooks können wir bei Bedarf zur Verfügung stellen. Einer Schülerin, die zuhause keinen belastbaren Internetzugang hatte, haben wir über den Schulsozialfonds zum Beispiel eine befristete Flatrate finanziert. Außerdem haben wir in der Schule eine ‚Study-Hall‘ eingerichtet. Dabei handelt es sich um einen Klassenraum, in dem bis zu zehn Schülerinnen und Schüler vor Ort arbeiten und unser WLAN nutzen können. Und zu guter Letzt kann ich über unsere Schulplattform viel einfacher Förderunterricht anbieten. Da erreiche ich die Schülerinnen und Schüler schnell. Und es melden sich auch immer einige.
Und ganz wichtig ist uns auch, das breite Mittelfeld im Blick zu haben. Denn darunter befinden sich ebenso Schülerinnen und Schüler, die ihre Potenziale noch nicht ausschöpfen.
Gaby Petry
Gaby Petry: Ebenso wichtig ist nach unserem pädagogischen Konzept, sich nicht nur um die Schülerinnen und Schüler mit Anschluss-Schwierigkeiten zu kümmern. In der Förderung defizitärer Schüler waren wir schon immer gut. Darüber hinaus wollen wir die Exzellenz-Förderung nicht vergessen. Und ganz wichtig ist es, das breite Mittelfeld im Blick zu haben. Denn darunter befinden sich ebenso Schülerinnen und Schüler, die ihre Potenziale noch nicht ausschöpfen. Die wollen wir auch im Blick behalten und gezielt fördern. Das Dalton-Konzept eröffnet dazu mit individualisierten Lernaufgaben gute Möglichkeiten.
Inwiefern verändert sich durch diese Form der Schülerbegleitung das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern?
Gaby Petry: Vor allem das Mentoren-Prinzip führt zunehmend zu einer Kommunikation auf Augenhöhe. Den Begriff haben wir ja sehr bewusst gewählt. Tutor oder Pate hätte es nicht getroffen. Ein Mentor ist Begleiter.
Kerstin Kocura: Das führt zu einem neuen Rollenverständnis. Die Lehrerinnen und Lehrer sind verstärkt Lernbegleiter und Förderer. Sie kommen aus ihrer Beurteilungs-Rolle heraus. Gleichzeitig erweitert das unseren Horizont, da die Lehrerinnen und Lehrer auf diese Weise Lernende aus anderen Bildungsgängen erleben.
Die Lehrerinnen und Lehrer sind verstärkt Lernbegleiter und Förderer. Sie kommen aus ihrer Beurteilungs-Rolle heraus.
Kerstin Kocura
Warum ist es überhaupt so wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler üben, eigenständig zu lernen und sich auch mit den technischen Möglichkeiten auseinandersetzen?
Kerstin Kocura: Das digitale Lernen ist inzwischen in vielen Berufen sehr wichtig geworden, nicht nur in den technischen. Im Bereich der Seniorenhilfe zum Beispiel bei der Pflegedokumentation. Dabei gehen die Pflegekräfte mit ihrem Tablet von Bett zu Bett. Viele Weiterbildungen laufen inzwischen digital. Deshalb wollen wir niederschwellig den Einstieg in die digitale Arbeitswelt erleichtern und auch auf das Studium vorbereiten, in dem heute viel mehr auf diesen Wegen passiert. Schon die Immatrikulation erfolgt online.
Gaby Petry: Das digitale Lernen fordert dazu heraus, sich selbst zu organisieren. Für das Studium ist das von entscheidender Bedeutung. Dort gibt es klare Fristen und Grenzen, innerhalb derer zum Beispiel Hausarbeiten erstellt werden müssen. Über digitale Plattformen können wir Materialien und Arbeitsergebnisse viel schneller mit anderen teilen. Das erfordert und fördert das Miteinander. Darüber entstehen Kontakte. Und das erleichtert die Aneignung von Wissen. Auch wir Lehrer lernen durch die Digitalisierung viel dazu.
Das klingt nach einem Prozess, der erst begonnen hat. Wie wollen Sie Ihre Schule weiterentwickeln?
Gaby Petry: Unser Dalton-Motto heißt ja: ‚Freiheit in Gebundenheit‘. Wir geben den Rahmen vor. Innerhalb dieses Rahmens habe ich als Schülerin oder Schüler die Möglichkeit zu entscheiden, wann ich was mache. Unsere Aufgabe als Lehrerinnen und Lehrer besteht vor allem darin, sinnvolle Aufgaben zu entwickeln und zu prüfen, ob sie angemessen sind. Das reflektieren wir regelmäßig. In den meisten Fächern wurden mit der zweiten Dalton-Auflage ab vergangenem Sommer bereits Änderungen vorgenommen. Auch die Leistungsbeurteilung steht dabei im Blickpunkt: Die Portfolio- und die Projektarbeit werden wichtiger. Ziel bleibt es, die Schülerinnen und Schüler zu Lernerfolgen zu motivieren.
Kerstin Kocura: Wir werden versuchen, den Anteil der Dalton-Stunden noch auszuweiten. Ein Gymnasium in Alsdorf arbeitet bereits zu 70 Prozent nach diesem Lernmodell. Dabei wird die Digitalisierung zur Queraufgabe in allen Bereichen. Klar ist: Durch die Digitalisierung alleine ändert sich Schule nicht. Mit einem pädagogischen Konzept wie Dalton ändern sich aber Schule und Unterricht. Und zwar so, dass sie mehr den Herausforderungen entspricht, denen die Schülerinnen und Schüler anschließend in Studium und Arbeitswelt begegnen.
Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führte Ulrich Bock
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